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Nöck – eine Kurzgeschichte

Jan Ranft

30. Nov. 2021

Eine Leseprobe aus meinem Buch „Zitronenjoghurt mit Buttermilch“ …

Taavi segelte die ganze Nacht. Das Holz der Planken trug die Gesänge der Sirenen vom Bug zum Heck. Das Schiff war erfüllt von Stimmen voller Sehnsucht und von Geschichten aus bodenloser Tiefe. Durch Oulu, die Stadt am Meer, musste er schließlich flussaufwärts rudern. Dort vorbei, wo die Flussmänner hausen. Als Taavi schlief, stieg einer zu ihm an Bord. Tropfend, still und leise. Legte sich zu ihm aufs Lager. Ein Mann des Flusses. Ein Nix, ein Nöck, ein Wassermann.

Taavi erwachte halb aus einem Traum. Warme Haut, kühles Nass. So gar nicht Fisch – und doch kein Mensch. Ebenmäßig und schön Nöcks Gesicht, voll sanfter Männlichkeit. Opalgrün leuchtete das weite Band des Polarlichts am Himmel. Wie Aquamarin schimmerte Nöcks Haar, sein Bart. Silbern sein Glied im Licht von tausend Sternen. Und dann nahm er Taavi, so wie ein Mann eine Frau. Und Taavi gab sich ihm hin, wie im Rausch. Doch alles Sein kommt aus dem Wasser und kehrt dahin zurück. Und so führte Nöck ihn mit sich in sein Unterwasserreich.
Verzweifelt muss er gewesen sein, weil er sich in die Fluten stürzte. So sagten sie, als sie Taavi am Morgen tot am Ufer fanden. Keiner ahnte, was ihm widerfahren war, in jener Nacht.

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